Eben stieß ich bei meiner Blogrunde auf diesen Blogeintrag von mama-arbeitet.de. Weil ich zu ausufernden Kommentaren neige, schreibe ich lieber einen eigenen Artikel zu diesem Thema, das mir schon länger unter den Nägeln brennt: Die heile Welt im Kinder(bilder)buch. Mama, Papa und zwei Kinder. Und, im Falle von Conny mit der Schleife im Haar, auch noch ein Kater. Mama steht oft mit Schürze (und Stöckelschuh) am Herd, bringt die Kinder in den Kindergarten und holt sie ab, schaut die Hausaufgaben durch, misst Fieber, kocht Tee und arbeitet maximal bis um 12 Uhr am Mittag. Papa ist fürs Außergewöhnliche da, die Wochenendausflüge, den Besuch im Zoo, das Verkosten der von Mama mit Kind gebackenen Kekse. In Musterbilderbüchern kommen auch gern wunderbare Großeltern vor, die geduldig lächeln, Kuchen backen, stundenlang Märchen vorlesen und dem Kind die schönsten Sommerferien der Welt ermöglichen. Ein Kind, das anders aufwächst, könnte den Eindruck gewinnen, sein Leben sei unnormal. Um vorzubeugen: ich habe nichts gegen Bullerbü. Absolut nichts. Ich liebe die Bücher Lindgrens und habe ein paar der alten Filme auf dem Flohmarkt erworben. Aber die Lindgren-Welt ist eine Gegenwelt von Kindern für Kinder, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Und Pippi lebt allein. Die Freiheit, die die Kinder auf Bullerbü genießen, wünsche ich beim Spielen allen Kindern – ohne „Pass auf, da rast wieder ein Motorrad durch die Spielstraße“ oder „Sag dem Nachbarn, der sich beschwert, dass ihr auf der Wiese hinter seinem Riesengarten so laut seid, einen schönen Gruß von mir, ihr DÜRFT das!“ Was ich nicht mag, ist das Einzementieren der Idylle als Normalzustand. Oder, wie die Mutter aus „Lauras Stern“ am Abend zur Tochter sagt, die sich ums Geld sorgt: „Uns kann so etwas nie passieren. Wir haben einen sicheren Job und werden immer genug Geld haben!“ Warum machen Bücher für Kinder oft so einen großen Bogen um Probleme, die die Kinder ja durchaus wahrnehmen? In welchem Bilderbuch beziehen Eltern Hartz IV? Wo ist die Oma Alkoholikerin, der Opa vielleicht psychisch krank, der Vater abwesend, die Mutter ganztägig berufstätig und abends so müde, dass sie nicht mehr „piep“ sagen kann? Aber, so mag man sagen, muss man denn die armen Kinder mit so etwas belasten? Haben sie nicht früh genug damit zu tun? Gönn ihnen doch die sorgenfreien Kinderjahre. Nur, erinnert euch mal, waren eure Kinderjahre sorgenfrei? Welches Kind hat nicht mit Menschen zu tun, die Probleme mit sich herumtragen, einfach weil es normal und menschlich ist, nicht wie ein Roboter zu funktionieren. Ja, Eltern können das in den meisten Fällen liebevoll, geduldig und mit eigenen Worten erklären. Aber ehrlich, warum darf es nicht auch mal ein Buch dazu sein? Und zwar eines, das sich nicht darauf beschränkt, das Elend zu bejammern und zu wehklagen, sondern Literatur, die sagt „Das gibt es. So sieht es aus. Es passiert manchmal. Und das ist der Weg des/der Protagonisten, damit umzugehen. Und schau, manchmal kann man sogar darüber lachen. Sollte man vielleicht auch. Sogar mehr als einmal.“
Eine kurze Liste der außergewöhnlichen, anderen Kinder(bilder)bücher, die mir in den letzten Jahren in die Hände gefallen sind:
– „Abschied von Rune“ von Marit Kaldhol – der Freund stirbt beim gemeinsamen Bootfahren und ein Mädchen muss mit dem Tod fertigwerden (aus aktuellem Anlass: Auch Kinder können sterben 🙁 )
– „Irgendwie anders“ von Kathryn Cave – eine Geschichte über einen Außenseiter, der aufgrund seines Andersseins einen Freund findet. Fundamentale Erkenntnis: es müssen nicht alle Menschen gleich sein.
– „Ein mittelschönes Leben“ von Kirsten Boie – ein Kinderbuch über Obdachlosigkeit, das sozialen Abstieg aufgrund von familiären und beruflichen Problemen begreiflich macht. Die Würde des Menschen ist unverletzlich.
– „Josefine findet heute alles doof“, „Josefine will nicht schlafen gehen“ u.a. von Tove Appelgren. Keine außergewöhnlichen Situationen, dafür Alltag pur. Eine genervte Mutter mit Augenringen wie ein Pandabär, trotzige Kinder und eine unaufgeräumte Wohnung. Muss man in deutschen Bilderbüchern lange suchen.
– „‚Oma!“, schreit der Frieder“ von Gudrun Mebs. Frieder lebt mit seiner granteligen Oma (übrigens ganz ohne Bilderbuchfamilie) und erlebt mit ihr interessante Alltagssituationen.
Der Neunjährige liest zur Zeit:
– „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ und die Fortsetzungsbände von Andreas Steinhöfel. Die Detektivgeschichten rund um den hochbegabten Oskar und den tiefbegabten Rico sind präzise Milieustudien, und nein, keine heile Welt. Ricos Mutter ist alleinerziehend und arbeitet in einem Nachtclub. Und es gibt eine Menge schräger Berliner Typen. Und auch hier gilt: Die Würde des Menschen wird nicht verletzt.
– „Der Hund, der unterwegs zu einem Stern war“ von Henning Mankell. Joel lebt allein mit Papa Samuel (die Mama ist irgendwann einfach gegangen) in einem Dorf in Nordschweden. Auf seinen heimlichen nächtlichen Entdeckungsreisen begegnet er Außenseitern, die ihn auf seinem Weg zum Erwachsenwerden begleiten.
– „Was verbindet die Welt?“ von Brigitte Labbé und Michel Puech. Keine Fiktion, sondern ein Sachbuch für Kinder über Fragen der Ethik. Angefangen bei Rollenbildern von Mädchen und Jungen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bis hin zu Gewalt, Krieg und Frieden. Völlig unprätentiös, bodenständig und schnörkellos.
Disclaimer: Abends sehe ich selten fern. Wenn ich einen typisch deutschen Fernsehfilm anschaue (und dazu zähle ich auch den „Tatort“), so leben die Menschen entweder in völlig durchdesignten Villen mit Riesengärten, Putzkraft und Gärtner (und bevor der Held die Heldin küsst, muss erst noch das hauseigene Gestüt gerettet werden) oder aber in völlig desolaten Familienverhältnissen, bei denen man sich fragt, warum sich nicht alle längst selbst oder gegenseitig erschossen haben. Selten wird mit Leichtigkeit erzählt wie in „Billy Elliot“, „Ganz oder gar nicht“ oder „Calendar Girls“. Lachen ist in deutschen Problemfilmen verboten.
– Wenn es denn so idyllisch wäre, dieses Deutschland. Wenn alle Menschen Arbeit hätten und in glücklichen Beziehungen lebten. Niemand unter psychischen Störungen litte, Jugendkriminalität und Armut kein Thema wären … – Warum also so viel Idylle?
Das meinen andere