Frau Kreis hat gerade etwas Luft. Nicht wörtlich, denn die Nase ist zu und der Brustkorb scheppert, aber doch zeitlich. Und so liest sie sich durch die Bloglandschaft. An vielen Stellen erfreut, zustimmend nickend, kichernd – aber manchmal auch mit gehöriger Irritation. Viele Frauen- und Mütterblogs beschreiten in Worten und/oder Taten den Weg zu mehr Natur, Nachhaltigkeit und Gelassenheit. In vielen Dingen finde ich mich wieder. Wir backen unser Brot und unseren Kuchen selbst, kochen weitgehend ohne Fertigprodukte und beziehen unsere Nahrungsmittel aus der Region. Dank geeigneter Kochbücher kann man den Winter hindurch auch mit Gemüse und eingelagertem Obst aus der Region ohne Skorbut überleben. Durch die Lieferung der Obst-/Gemüse-/Milch-Kiste entfällt sogar die Fahrt zum Großmarkt häufig. Wir fahren nicht 4x im Jahr in den Urlaub, und meist bleiben wir innerhalb eines Radius von 300 km. Kleidung wird vom größten zum kleinsten Kind weitergereicht, wenn sie sich nicht vorher in Fetzen auflöst. Wegen sorgfältiger Auswahl unserer Ärzte müssen wir nicht befürchten, unnötig mit Antibiotika und Röntgenstrahlung konfrontiert zu werden; im Großen und Ganzen ist unser ökologischer Fußabdruck vermutlich vertretbar. Ich habe eben beim Laufen darüber nachgedacht, warum mich trotzdem beim Lesen mancher Einträge ein Unbehagen befällt. Vielleicht ist es die Radikalität, die mich aus manchen Beiträgen anspringt. Weil ich sie nicht teilen kann und will. Nein, ich schlucke nicht willenlos jede Pille, aber ja, ich war sehr dankbar für das entkrampfende Medikament, das meine Tochter vom minutenlangen Fieberkrampf befreite. Und ich habe mich auch nicht dagegen gewehrt, dass ich nach tagelangem Dauerspucken in der Schwangerschaft an einen Tropf mit Plastikbeutel gehängt wurde. Die Plastikbrotdosen im Küchenschrank sortiere ich nicht aus, sondern nutze sie, bis sie zerbrechen. Meine Kinder tragen im Wald und auf der Wiese bei diesem Wetter Gummistiefel und Schneeanzüge. Ich webe meine Kleidung nicht selbst, sondern kaufe sie, bewusster als früher, aber ich kaufe sie immer noch. Ja, und ich töne ab und an meine Haare. Oft mit Henna, manchmal aber auch mit chemischen Substanzen. Vielleicht bin ich auch irritiert, weil an mancher Stelle mütterlicherseits die Rückkehr zur Natur gepredigt wird, der verdienende Partner aber im Rahmen seines Jobs einen Business-Trip nach dem anderen unternimmt, oftmals als Kurzstreckenflug. Auch irritierend finde ich, dass das Nähen mit günstig bei I.KEA erworbenen Stoffen aus Indien und Bangladesch ökologische Implikationen haben soll. Wenn alle Menschen ins Grüne zögen und ihr Gemüse selbst anbauten, wäre das ökologisch ebenso fragwürdig wie der Bau von Biogasanlagen zum Zweck der Verheizung von Nahrungsmitteln. Ich lebe im 21. Jahrhundert – mitten in Deutschland. Auf viele komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten, sondern nur Wahlmöglichkeiten. Um diese überhaupt zu erkennen, muss man sich informieren, und man muss abwägen, im Sinne seines eigenen Wertekanons. Und die meisten von uns (die ohne Management-Versorgerpapa und die Nicht-Berufserben) müssen das Entscheiden und Abwägen oft in Zeitnot, zwischen Suppe und Kartoffeln, Berufstätigkeit und Kinderbetreuung betreiben. Klar ist es einfacher, die Fertigpizza in den Einkaufskorb zu legen als Mehl, Hefe, Tomaten – und dann noch für Parmesan anstehen, oh nein, und außerdem ist heute noch Elternabend. Mist. Und ich bewundere unsere Kitaleiterin, wenn sie zum gefühlt hundertsten Mal neue Porzellanbecher kauft, statt Melamin zu wählen. Für ihre Geduld, das beim Träger zu rechtfertigen, und ihre Dickfelligkeit gegenüber den Erzieherinnen, die meinen, so langsam seien doch mal Plastikbecher angemessen, zumal die Kinder immer jünger würden. Nur: wo lernt man Informieren, Abwägen und Entscheiden?
Und da sind wir plötzlich in der Schule, wo man all diese Dinge durchspielen kann, ohne dass der ganze Ernst mit voller Wucht zuschlagen kann. Schule sollte befähigen, eine Position zu entwickeln und auf der Basis dieser Position Entscheidungen zu treffen. Begründet. (natürlich sollte das auch das Elternhaus, aber Eltern = meist ideologisch verbrämt, bis zur Pubertät ungebrochene Rollenvorbilder, danach häufig in Ablehnung dieser Rollenvorbilder komplett kontroverses Verhalten, also nicht unbeschränkt empfehlenswert). Ich lese gerade die Portfolios meiner letzten Zehn. Besonders berührt hat mich dieser Satz: „Am schönsten an der ganzen Reihe war eigentlich, dass wir nicht irgendwie sein und irgend etwas meinen sollten, sondern selbst viel denken mussten.“ Vielleicht will ich das. Nicht irgendetwas sein, aber viel denken müssen. Und manchmal im Sinne der viel gescholtenen Aufklärung auch feststellen, dass die Zivilisation Vorteile hat, von denen wir täglich profitieren.
Das meinen andere